Führende Palästinenserin zu Gast an der Kreuzkirche

Veröffentlicht am 20.11.2010
in Redaktioneller Eintrag

Veröffentlicht am 20.11.2010

Führende Palästinenserin zu Gast an der Kreuzkirche

Buchautorin und Friedensfrau Dr. Sumaya Farhat-Naser fordert ein Ende der Besatzung

Bis auf den letzten Platz voll besetzt ist der Gemeindesaal der evang. Kreuzkirche beim Vortrag der ehemaligen Hochschullehrerin aus Birzeit im von Israel besetzten Westjordanland. Überaus engagiert trägt sie ihr Anliegen vor. Gegen die anhaltend bedrückende politische Lage setzt sie weiter auf den Geist des Friedens und der Versöhnung.
„Ich wurde orthodox getauft, bei den Diakonieschwestern evangelisch erzogen, habe anglika-nisch geheiratet und wurde mit der Ehrendoktorwürde einer katholischen Fakultät ausgezeichnet. Ich bin und lebe ökumenisch!“ Die in Deutschland promovierte Friedenspädagogin sieht in den 6 Mio Israelis auf der einen und den 5 Mio Palästinensern auf der anderen Seite zwei Völker, die beide jeweils von ihrer Geschichte geplagt werden. Beide Völker sieht sie mit Neurosen behaftet, die nicht bearbeitet wurden und darum schlimmen Schaden anrichten. Damit Frieden werden kann, müssen wechselseitig tief sitzende Ängste erkannt und akzeptiert werden. Dafür koordi-niert und begleitet die bekannte Buchautorin („Thymian und Stein“) Gesprächsgruppen von 400 Frauen und Jugendlichen im Westjordanland.
Die politische Lage in Palästina ist nach Auffassung Farhat-Nasers niederschmetternd. Ein Ende der 43 Jahre lang andauernden Besatzung ist nicht in Sicht. So gibt es für zumeist aus wirtschaft-lichen Gründen ausgereiste Palästinenser nur eine eingeschränkte Rückkehrerlaubnis. Fast alle palästinensischen Familien leiden unter Trennungen. „In meinem Leben gab es noch keinen Tag, an dem ich mit meinen Eltern und allen meinen Geschwistern gemeinsam an einem Tisch hätte sitzen können“, betont die Referentin. Ebenso schlimm wiegt die schleichende Enteignung von palästinensischem Grundbesitz durch ein Bündel diskriminierender und schikanöser Verwal-tungsvorschriften. Wer z.B. in das von den Besatzern willkürlich angelegte Personenstandsregis-ter nicht aufgenommen wurde, verliert bei Abwesenheit seinen Besitz und sein Erbe. Es fällt laut Gesetz an den Staat Israel.
Insbesondere die völkerrechtlich illegale israelische Siedlungspolitik zerlöchert und zerteilt das palästinensische Wohngebiet. Das Netz der Zufahrtsstraßen und die dazu gehörigen militärischen Sperrstreifen zerschneiden das Land in 48 Enklaven. Sie sind teilweise nur fußläufig miteinander verbunden und selbst Kinder können nur durch militärische Absperrtore hindurch ihre benach-barte Schule erreichen. Dazu kommt ein System von Hunderten von festen und mobilen Check-points, die dafür sorgen, dass selbst für kurze Wege stundenlanges Warten und Anstehen in Kauf genommen werden muss. Aufgrund einer Intervention der EU können sich die Menschen in letz-ter Zeit allerdings wieder etwas freier bewegen.
Als sehr besorgniserregend beschreibt die mit vielen Israelis befreundete Friedensfrau die syste-matische Deportation palästinensischer Bewohner aus dem Jordantal und der sogenannten Saumzone am westlichen Rand der Westbank. Es zeichnet sich ab, dass Israel die gesamte paläs-tinensische Bevölkerung in drei voneinander isolierte, sehr dicht bebaute Siedlungsgebiete ein-grenzen will. Eine für die Palästinenser akzeptable Zwei-Staaten-Regelung ist damit in weite Ferne gerückt.



Die andauernden alltäglichen Konflikte zermürben. „Wir brauchen eine Pause von der Politik“, betont Farhat-Naser, „nur so können wir uns vor weiteren Traumatisierungen schützen.“ In den von ihr geleiteten Gesprächsgruppen lernen die Betroffenen einen friedlichen Umgang mit sich selbst. Der immer wieder aufkommende Zorn muss akzeptiert und überwunden werden. Der ei-genen Ohnmacht gilt es Erfahrungen funktionierender Normalität entgegenzuhalten. Und mit der Annahme, dass in jedem Menschen ein guter Kern steckt, wird versucht, ein Programm der Entfeindung auf den Weg zu bringen. Die gewaltfreie Trainingsarbeit von Farhat-Naser zielt da-rauf ab, „Menschen instand zu setzen für den Tag X, wenn dem Frieden auf politischer Ebene wieder eine Chance gegeben wird.“
Mit großer Sorge beobachtet sie auch Missstände innerhalb der palästinensischen Autonomiebe-hörde und die zunehmende Abhängigkeit aller politischen Akteure von äußeren Mächten und Interessen. Sumaya Farhat-Naser glaubt dennoch weiter an Frieden durch Einsicht. Dabei greift ihre Hoffnung weit aus in die Zukunft. Der Name ihres jüngst geborenen Enkelkindes ist ihr Auf-trag und Verheißung. Das Mädchen heißt Selim. Der Name bezieht sich auf das arabische Wort salam und ist gleichlautend mit dem hebräischen schalom und heißt: Frieden!


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